Frei von Furcht und bei kühlem Verstand & Kriminelle Kräuter

Die Ersten schieben zartgrüne Spitzen an den trockenen Halmen vom letzten Jahr vorbei. „Ich vermag es mir nicht vorzustellen, dass es Menschen gibt, die sich noch nie an einer Brennnessel gebrannt haben“, schreibt der Apotheker M.
Pahlow in seinem Großen Buch der Heilpflanzen und hält daher Anfang der 1990er-Jahre eine Beschreibung für überflüssig. Das mag drei Jahrzehnte später nicht mehr gelten, wir verlassen uns auf Madeleines Illustration und lesen, was er über die Pflanzengattung namens Urtica schreibt. Sie ist bekannt für ihre Nesselhaare, deren Inhalt (Acetylcholin, Histamin, Serotonin, alle drei wirken im menschlichen Körper als Botenstoffe) bei Berührung brennenden Juckreiz verursacht. In der Schulmedizin werden seit den 1970er-Jahren Brennnesselwurzeln als Medikament angewendet, in der Volksheilkunde schon viel länger. Urtica dioica, die Große und Urtica urens, die kleine Schwester tauchen als „wassertreibend“ und als Mittel gegen Gelenkleiden, Rheuma und Gicht, Gallen- und Leberbeschwerden bereits in mittelalterlichen Kräuterbüchern auf. Nach jahrhundertelangen Erfahrungen kurbeln Brennnesselblätter den gesamten Stoffwechsel an, was eine bei all den wissenschaftlich immer noch geheimnisvollen Botenstoffen nicht wundert, und eignen sich als anregende Frühjahrskur: Zwei gehäufte TL mit ¼ l kochendem Wasser übergießen, fünf Minuten kochen, abseihen; vier bis acht Wochen lang morgens und abends je eine Tasse mäßig warm schluckweise trinken. Das Tollste: Nebenwirkungen sind nach Auskunft des Apothekers nicht zu befürchten! Warum also in exotische Ferne schweifen…
Mal ab von den Menschen und ihren Beschwerden. Bei genauem Hinschauen sind auf fast jeder Brennnessel Fraßspuren von Insekten zu finden. Die Raupen vieler Schmetterlingsarten interessieren sich brennend für Nesselgewächse. Für die Raupen von rund 50 Schmetterlingsarten sind bestimmte Brennnesselarten eine Futterpflanze. Der Admiral, das Tagpfauenauge, der Kleine Fuchs, auch als Nesselfalter bekannt, die Silbergraue und die Dunkelgraue Nessel-Höckereule, die Brennnessel-Zünslereule und das Landkärtchen sind sogar auf die Brennnessel angewiesen, andere Futterpflanzen kommen für diese Arten nicht in Betracht: Diese Abhängigkeit nennt man Monophagie, sie spielt eine große und traurige Rolle beim Artensterben.
Zurück zum Menschen, dem Verursacher dieses Dramas. Auch ihm dient die Große Brennnessel seit Jahrtausenden. Sie taucht daher auch in Märchen auf, beispielsweise in dem von den zwölf Schwanenbrüdern, die von ihrer Schwester mittels Nesselhemden in menschliche Wesen zurückverwandelt werden. Bis ins 18. Jahrhundert nutzte man sie als wichtige Faserpflanze für feste Stoffe, Netze oder Stricke; noch um 1900 galt sie als das „Leinen der armen Leute“; aber wegen mangelnder industrieller Verarbeitbarkeit geriet die Nessel ins Vergessen. Aufgrund einer Baumwollknappheit lebte das Interesse wieder auf. Heute wird eine neu gezüchtete Fasernessel unter anderem für eine Firma im niedersächsischen Lüchow-Dannenberg kultiviert, die daraus Hemden und Hosen herstellt. Ein finnisches Projekt nutzt zur Textilherstellung reine Wildtypen, und Paula vom KulturenergieBunkerProjekt plant einen Nesselworkshop. Die Fasern werden heutzutage durch mikrobiologische Prozesse freigelegt. Mal weben.
Ansonsten setzen wir Brennnesseljauche zum Düngen an. Sie liefert Mineralstoffe und wird wegen der enthaltenen Kieselsäure auch als Pflanzenstärkungsmittel gegen saugende Insekten eingesetzt. In Frankreich wurde das 2006 als „Verkauf, Besitz und Herstellung von nicht zugelassenen Pflanzenschutzmitteln“ bei Strafe verboten. Es kam zum „Brennnessel-Krieg“. Dann billigte die Nationalversammlung die Verwendung von „natürlichen Präparaten aus handwerklicher Fertigung“ wie Brennnessel-Dünger. Aber erst 2011 wurde das Inverkehrbringens von hausgemachter Brennnessel-Jauche zur Verwendung im Pflanzenschutz wieder legalisiert.
Die zeitweise kriminelle Pflanze wächst bevorzugt in der Nähe menschlicher Behausungen, in Gärten, an Zäunen, an Weg- und Grabenrändern, auf Schuttplätzen und Ödland, in Parks, und ist kaum auszurotten, weil Staude, das heißt ausdauernde krautige Pflanze, die zwar nicht verholzt, aber aus der Wurzel wieder ausschlägt, wie wir auch auf unserem den Insekten und Vögeln des Stadtteils gewidmeten sogenannten „Parkbeet“ bei der Rodung festgestellt haben. Hier folgt ein magischer Hinweis: Frei von Furcht und bei kühlem Verstand zu bleiben scheint in all den Projekten dieser Welt erstrebenswert. Dabei soll es eine/n unterstützen, fünf Nesselblätter in der Hand zu halten. Wundert euch also nicht bei der nächsten Sitzung…

 

Wie die Brennnessel gilt der „Bettpisser“, Taraxacum officinale, die Kuh- oder Butterblume vielen als lästiges Unkraut und wird von anderen angebaut. Diese Staude bildet eine tiefe Pfahlwurzel, weißen Milchsaft und eine Grundrosette aus sehr unterschiedlich geformten länglichen, grob gezähnten Blättern, deren Form ihr einen ihrer vielen Namen gibt: Löwenzahn. Der gehört zu den Compositae, den Korbblütlern, ihre Blüten bilden Köpfchen oder Körbchen. Einen weiteren Namen verdankt er seinen kleinen Früchten, an ihrer Spitze befindet sich ein federartiger Pappus. Die Pusteblume lässt ihre Fallschirme über Wiesen, Grasplätze, Grünland, Unkrautfluren segeln und wirkt schon beim Zuschauen erleichternd. Die vielen mundartlichen und umgangssprachlichen Bezeichnungen sprechen von Prominenz. Einige beziehen sich auf die harntreibende Wirkung (Diuretikum): Bettnässer, Bettschisser, Bettseecher, Pissblume, Pisser, Pissnelke; der Name Maistock auf die Zeitder ersten Blüte.
Bitterstoffe sind die wichtigsten Wirkstoffe des Löwenzahns. Sie fördern allgemein die Ausscheidung und helfen bei Appetitmangel, Verdauungsbeschwerden mit Völlegefühl und Blähungen, bei Störungen im Bereich des Gallenabflusses und zur Anregung der Harnausscheidung bei entzündlichen Erkrankungen und Steinbildung. Die Volksheilkunde nutzt Löwenzahnextrakt und andere aus der Pflanze gewonnene Drogen (legale, natürlich) außerdem als leichtes Abführmittel, bei Diabetes, bei rheumatischen Erkrankungen und Ekzemen. In neuerer Zeit wurde nachgewiesen, dass Extrakte aus Löwenzahn auch Krebszellen hemmen.

 

Gut fürs nordische Tsatsiki (siehe Rezepte) ist die Knoblauchrauke, auch Knoblauchhederich beziehungsweise Alliaria officinalis genannt (siehe Rezepte). Es ist ein Kreuzblütler. Man erkennt die Cruciferaceae, die Kreuzblütler, an den vierzähligen Blüten. Zur optimalen Lichtausnutzung trägt die Knoblauchrauke unten relativ große, lang gestielte, nierenförmige Blätter und nach oben hin werden ihre Blätter deutlich kleiner und kurzstieliger. Alle riechen beim Zerreiben intensiv nach Knoblauch. Als Halbschattenpflanze liebt sie Laubwälder. Dort ist sie ursprünglich daheim, gedeiht aber auch in den Gebüschen und Hecken, an den Mauern und Wegrändern, auf den Schuttplätzen, in den Parkanlagen und Gehölzen der Stadt gut – und in schattigen Teilen des KEBAP-Gartens. Dort trägt sie von April bis Juli Trauben aus vielen millimeterkleinen Blüten. Die Knoblauchsrauke ist eine krautige, also nicht verholzende, zweijährige Pflanze. Ihr Lebenszyklus von der Keimung bis zur Samenbildung dauert zwei Jahre, genauer zwei Vegetationsperioden. Das sind nicht zwei Jahre im Kalendersinn, sondern eine Vegetationsperiode vor der klimatisch ungünstigen Zeit (bei uns Winter, anderswo Trockenzeit o.a.) und eine danach. Zweijährige Pflanzen unterscheiden sich dadurch zum einen von den einjährigen, die nur eine Vegetationsperiode lang leben, zum anderen von den „echten“ Mehrjährigen, die mehr als zwei Vegetationsperioden lang leben, denn nach der Reife der Samen sterben, wie die Einjährigen, auch die Zweijährigen ab. Bekannte Beispiele von Zweijährigen sind das Silberblatt und der Riesen-Bärenklau. Im ersten Jahr nach der Keimung bildet die Knoblauchrauke also nur Wurzeln und Blattwerk aus, um Nährstoffe zu speichern. Die Ausbildung der Blüten und der Früchte mit den Samen erfolgt erst in der zweiten Vegetationsperiode. Knoblauchrauke kann bis zu einem Meter hoch werden, an mageren Standorten wurden aber fruchtende Pflanzen von nur fünf Zentimeter Höhe gefunden, was ein gutes Beispiel für die Anpassungsfähigkeit dieser Art gibt. Der Tagfalter Waldbrettspiel saugt gern an der Knoblauchrauke, sie dient auch dem Aurorafalter als Nektarpflanze.
Als Futterpflanze nutzt sie außerdem der stark gefährdete Mehlfarbene Raukenspanner.
Dass wir die hier präsentierten drei Wilden bei uns an diversen Stellen sprießen lassen, genießen nicht nur Insekten, sondern auch Feinschmecker*innen.

 

Und hier unsere Wildkräuter-Rezepte:

Brennnessel: Zarte und scharfe Genussmittel
„Wilde Küche macht glücklich“, da sind sich die Biologinnen Lore Otto und Katharina Henne einig. Zusammen haben sie über Hamburgs wilde Küche geschrieben und finden, dass für unsere Ernährung nicht allein der Supermarkt zuständig sein muss: „Es ist spannend, vor die Tür zu gehen und mit dem zu kochen, was im Garten oder im Park nebenan wächst“. Lore, nicht nur engagierte Umweltpädagogin sondern auch experimentierfreudige Köchin, hat uns auf die Sprünge ins Wilde um den Bunker herum geholfen. Was grünt da, lecker und superzart? Zum Beispiel junge Blätter und Triebspitzen von Brennnesseln. Sie können vom zeitigen Frühjahr an geerntet werden, Haupterntezeit ist April bis Juni. Lore erläutert, die Brennnessel sei eine Zeigerpflanze für gut gedüngte Flächen und empfiehlt für den Verzehr darauf zu achten, dass die Düngung weder durch Gülle noch durch spazierengehende Hunde erfolgte. So gesammelt stehen die mitteleuropäischen Brennnesselarten – leicht angewelkt brennen sie nicht mehr – als Genuss- und Nahrungsmittel, auch in der „Enzyklopädie der essbaren Wildpflanzen“. Rein zum Genuss bereiten wir mit Lore beim Kochevent im Mai Brennnesselwaffeln:
Zutaten Für ca. 6 Waffeln:
100 g zerlassene Butter, 100g Rohrohrzucker, zwei Eier, ½ Tl Backpulver, Etwas Milch/od. Soja- od. Hafermilch, 120 g Dinkelvollkornmehl, 1 gr. Handvoll zarte Brennnesselspitzen
Zubereitung:
Eier und grob zerkleinerte Brennnesselspitzen in einen Blender geben und schreddern.
Aus Zucker, flüssiger Butter und der Eier-Brennnesselmischung eine cremige Masse rühren, bis sich der Zucker gelöst hat.
Mehl mit dem Backpulver mischen und nach und nach unter die Masse rühren. Dabei so viel Milch zugeben, bis der Teig zähflüssig ist (gut fürs Waffeleisen).
Im Waffeleisen backen.

Löwenzahn: Auf die alte norddeutsche Art
Völlig verkannt wird auch dieses ausdauernde Kraut, wenn man es nur wütend mit dem Spaten aus dem Rasen sticht. Die gelben Blüten eignen sich zur Herstellung eines wohlschmeckenden, honigähnlichen Sirups oder Gelees (mit Orange, Zitrone und Zucker) als Brotaufstrich. Die jungen, nur leicht bitter schmeckenden Blätter können als Salat verarbeitet werden. Die Wurzel kann ebenfalls als Salat verarbeitet oder gekocht werden. Aus den im Herbst geernteten inhaltsreichen Wurzeln wurde in den Nachkriegsjahren Ersatzkaffee bereitet und sie dienen heute wieder geröstet als Kaffee-Ersatz.
Bei uns kommt der junge Löwenzahn ins „Grünkraut auf alte Art“ zusammen mit jungem Spinat, jungem Mangoldgrün, jungen Brennnessel- und Kohlrabiblättern, Kerbel und Wegerich. Du schneidest für vier Menschen insgesamt ein Pfund dieses frischen grünen Maikrauts in Streifen, schälst und zerschneidest 200 g Kohlrabi und hobelst die Knollen in Scheiben, schwitzt das Gemüse in Fett an, würzt es mit Salz und Pfeffer, brätst eine Zwiebel aus und gibst sie zusammen mit 200 ccm Sahne unter das Grünkraut und lässt es kurz durchziehen. Vor dem Servieren kannst du Brotwürfelchen darüberstreuen. Und wer es so norddeutsch mag, mischt eingeweichte Korinthen oder Sultaninen unter das Grünkraut und lässt sie am Ende kurz mitziehen.

 

Knoblauchrauke: Das wahrscheinlich älteste einheimische Gewürz!
Wie versteinerte Pflanzenreste an Scherben von Tontöpfen aus Neustadt in Holstein zeigen, wurde dieses aromatische Kraut schon vor 4000 v. Chr. als Gewürz benutzt. Damit ist die Knoblauchrauke das älteste bekannte einheimische Gewürz! Im Mittelalter schätzte ihren pfeffrig-knoblauchartigen Geschmack vor allem die ärmere Bevölkerung, die sich teure Gewürze aus Übersee – wo der Pfeffer wächst – nicht leisten konnte. Daher wurde Knoblauchrauke damals in Gärten angebaut. Der Engländer John Evelyn nannte in seinem Kochbuch von 1699 diese Pflanze „sauce alone“, und er wies darauf hin, dass sie „besonders von Leuten auf dem Lande als Salat gegessen werde, wo sie wild unter Bänken und Hecken wachse“. Als Gewürze preisgünstiger und damit für alle Bevölkerungsschichten erschwinglich wurden, geriet die heimische Gewürzpflanze in Vergessenheit und wurde in „gepflegten“ Gärten als Unkraut ausgerupft. Nun entdeckt man sie, ähnlich wie den Bärlauch, wieder. Zum Essen sammelt man die jungen Blätter von April bis Juni. In England werden sie häufig für Sandwichfüllungen verwendet. Ihr scharfer Geschmack ist unter anderem auf ätherische Öle zurückzuführen, beim Kochen verflüchtigt er sich allerdings. Knoblauchrauke muss daher den Speisen in rohem Zustand beigegeben werden. Im KEBAP-Garten und anderswo mischen Köch*innen die feingehackten Blätter in Salate und Quark oder Frischkäse. So entsteht nordisches Tsatsíkji. Wenn noch keine Gurken da sind, gibt eine/r auf ein halbes Pfund Quark ein halbes Küchensieb frisch gehackte Knoblauchrauke, etwas Salz, 3 EL Olivenöl, etwas Essig und Pfeffer. Als nordischer Pfeffer eignen sich die schwarzen Samen der Knoblauchsrauke. Sie sind echt scharf!

 

Die Rezepte stammen aus: Katharina Henne & Lore Otto: Hamburgs wilde Küche – Was wächst denn da & kann man das essen?

Veranstaltungen

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen